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Der Spielplatz (eine Geschichte zum Nachdenken).

Es war der Inbegriff aller Spielplätze mit unendlich viel Platz für Horden von lachenden, übermütigen, spielenden Kindern. Jungen und Mädchen rannten herum, spielten Fangen und schrieen vor Übermut. Springseile wurden gedreht, während kleine Mädchen ihre Verse dazu sangen; Bälle flogen durch die Luft. Es war ein schöner Platz - normalerweise. Die Kinder spielten gut miteinander und befolgten die Spielplatzregeln - meistens. Manchmal brach ein Streit aus, gelegentlich sogar eine Prügelei, aber diese kleinen Scharmützel wurden schnell beigelegt. Alles in allem war der Spielplatz ein toller und sicherer Ort für die Kinder.


Die Spielplatzregeln, gross an einem grossen Holzschild neben dem Eingang angeschlagen, trugen dazu bei, den Frieden zu erhalten. Diese Regeln waren so deutlich und einfach, dass auch Acht- und Neunjährige sie verstehen konnten:


ES WIRD NICHT GEPRÜGELT.

ES WIRD NICHT GESCHUBST ODER GESTOSSEN.

DIE SPIELGERÄTE WERDEN GETEILT.

WECHSELT EUCH AB.

DIE MÄDCHEN WERDEN NICHT BESPUCKT.

DIE JUNGEN WERDEN NICHT GEJAGT.


Die Spielplatzregeln waren heilig, überall präsent und jedem klar; es gab kaum ein Kind, das sich nicht von Zeit zu Zeit auf diese Richtlinien berufen musste.

Als Peter zum Beispiel das erste Mal auf dem Spielplatz auftauchte, war er der Meinung, dass er, sobald sich der Ball erst einmal in seinen Händen befand, die volle Verfügungsgewalt darüber hätte. Seine Mannschaftsgenossen versuchten ihm zu erklären, dass er den Ball auch wieder abgeben müsse, denn sonst würde es kein Spiel geben. Doch die Vernunft allein war nicht in der Lage, seine Vorstellung zu ändern. Der Hinweis auf die Spielplatzregeln schaffte es schliesslich.


Stefan schien immer überflüssigen Speichel in seinem Mund zu haben und fühlte sich offensichtlich genötigt, ihn irgendwo abzuladen. Sandra war sein nächstgelegenes Ziel, und nur zu gern teilte er mit ihr seinen Überfluss, bis sie sich auf die Spielplatzregeln berief und er die Notwendigkeit einsah, den Speichel hinunterzuschlucken. Die Spielplatzregeln waren ein Segen - beständig und sicher, eine Zuflucht für die Unterdrückten, die Verteidigung der Schwachen, der Garant sozialer Stabilität.


Natürlich dürfen wir die Bedeutung von Frau Huber, der Aufsichtsperson auf dem Spielplatz, nicht übersehen. Frau Huber hatte als Autoritätsperson diese Regeln aufgestellt. Ohne ihre Anwesenheit wären die Spielplatzregeln nichts weiter gewesen als auf einem Holzschild aufgemalte Worte. Sie hatte scharfe Augen und Elefantenohren, war immer bereit, bei Schwierigkeiten zu Hilfe zu eilen, doch sie scheute sich auch nicht, die Unruhestifter zur Rede zu stellen. Zu diesem Zweck setzte sie ihren strengen Gesichtsausdruck auf, nahm ihre Pfeife zu Hilfe, das Klemmbrett und einen Stapel rosa Zettel, die einen Besuch beim Rektor bedeuten konnten.


Einige der Kinder schätzten ihre Anwesenheit auf dem Spielplatz, und natürlich hätten einige der Kinder es lieber gesehen, wenn sie nicht da gewesen wäre. Die einen fühlten sich sicher, die anderen eingeengt. Aber ob es ihnen nun gefiel oder nicht, auf dem Spielplatz ging es geordnet zu, weil Frau Huber und die Spielplatzregeln dafür sorgten. Und dann eines Tages war auf dem Spielplatz etwas anders. Es dauerte eine Weile, bis die Kinder es bemerkten, doch schliesslich wurde ihnen klar, dass Frau Huber nicht zu sehen war. Einige freuten sich natürlich darüber. »Gut, dass sie weg ist!«, sagten sie. Aber einige waren auch besorgt und fragten die anderen Lehrer, wo Frau Huber denn wäre.


»Nun«, meinten die Lehrer, »wir haben beschlossen, dass es keine Autorität gibt. Ihr Kinder seid von Natur aus gut und durchaus in der Lage, selbst zu entscheiden. Ihr habt die Fähigkeit, eure Probleme selbst zu lösen und dafür zu sorgen, dass dieser Spielplatz zu einer besseren Welt wird. Ihr braucht Frau Huber nicht.«

„Aber was ist mit den Spielplatzregeln?«, fragten sie. »Ihr könnt selbst entscheiden, ob die Spielplatzregeln richtig für euch sind. Es steht uns wirklich nicht an zu entscheiden, ob die einen Regeln besser sind als andere.« Und so blieben die Kinder ihrem eigenen Willen und ihren Launen überlassen.


Eine Zeit lang beherrschten die Spielplatzregeln noch ihre Gedanken. Die Regeln hatten in der Vergangenheit recht gute Dienste geleistet; in den nachfolgenden Tagen sorgten sie auch weiterhin für Ordnung und Frieden. Doch eines Tages hörte Stefan auf, den überflüssigen Speichel in seinem Mund hinunterzuschlucken. »Es ist mein Mund und meine Spucke«, argumentierte er für sich. »Ich sehe nicht ein, wieso mir jemand vorschreiben soll, wie ich den loswerde.« Woraufhin er eine grosse Ladung in Sandra’s Auge losschickte.

Sandra war ausser sich. Sie fühlte sich verletzt, betrogen, beleidigt. und herabgewürdigt, ganz zu schweigen von dem Ekel, den sie empfand. »Stefan! Das darfst du nicht machen!«


»Ach ja?«, erwiderte er. »Wer sagt das?« Daraufhin schleppte sie ihn zu dem Holzschild mit den Spielplatzregeln.


»Siehst du?«, sagte sie und deutete darauf. »In den Regein steht: »Mädchen werden nicht bespuckt.«« »Aber ich kann entscheiden, ob ich mich an diese Regeln halte oder nicht.«


»Aber du hast mich verletzt, und das weisst du ganz genau.«


»Das hängt von deiner Definition von Verletzung und von Wissen ab.«


Kurz darauf wurde das Ballspiel abgebrochen, weil Peter den Ball fing und damit

verschwand.


»Hey«, riefen die anderen und rannten ihm nach, »das Ist unser Ball«


»Jetzt gehört er mir«, erwiderte er. »Aber du musst teilen!« »Ach ja? Wer sagt das?«

Sie deuteten auf die Regeln. »Da steht: »Die Spielgeräte werden geteilt.««


Peter blieb unbeeindruckt. »Und ihr haltet euch wirklich noch an dieses alte Schild? Kommt schon, wir brauchen diese Regeln nicht. Wir können uns doch von der Vernunft den Weg zeigen lassen.«


Und so versuchten sie, sich vernünftig mit ihm auseinander zu setzen. Immerhin sollte die Vernunft ihnen doch nach der Entfernung der Autoritätsperson Frau Huber und der Abschaffung der Spielplatzregeln helfen.


»Also«, erwiderte er, »A: Ich möchte den Ball haben. B: Ich möchte nicht, dass ihr ihn bekommt und C: Darum werdet ihr ihn nicht bekommen!«


Die anderen Jungen wussten darauf nichts zu erwidern abgesehen von denen, die nicht vor ein wenig Grobheit zurückscheuten. Die Regeln waren nicht mehr in Kraft, und die Vernunft verschaffte ihnen keine Gerechtigkeit, darum kreisten sie Peter ein, schlugen ihn nieder und holten sich den Ball zurück.


Nach diesem Verhaltensmuster schnappten sich Ursula und Petra prompt das Springseil. Die Mädchen, denen sie es weggenommen hatten, versuchten, offen und tolerant zu bleiben, aber sie fühlten sich trotzdem betrogen. »Wir denken, ihr solltet teilen«, sagten sie.


Ursula verdrehte die Augen und Petra antwortete: » Wir finden, ihr solltet aufhören, uns eure engstirnige Mittelklassemoral aufzudrücken.« »Aber ihr kennt doch die Regeln.« Ursula und Petra lachten die Mädchen aus. »Wir sind über die Regeln hinausgewachsen und haben eine höhere Erkenntnisebene erreicht: Wir denken, das Springseil gehört uns. Wir denken, wir haben das Recht, es zu besitzen, Und darum gehört das Springseil uns.« Diese neue Art des Denkens breitete sich aus. Die Kinder brauchten die Autoritätsperson Frau Huber nicht mehr. Und was die Regeln betraf - sie standen zwar nach wie vor auf dem alten Schild auf dem Spielplatz, doch sie wurden zunehmend zum Stein des Anstosses. Schliesslich rissen die Kinder das Schild um und drohten, jedes Kind zu verhauen, das versuchte, es wieder aufzustellen.


Als die erste richtige Schlägerei ausbrach und Thomas Roland ganz schrecklich verprügelte, standen die Kinder dabei, sahen zu und amüsierten sich, aber keiner von ihnen sagte, es sei die Schuld des einen oder anderen. Niemand sagte, dass es falsch sei.

Da nichts falsch war und niemand die Schuld an etwas trug, fühlte sich schon bald jedes Kind berechtigt, sich alles zu nehmen oder alles zu tun, was ihm in den Sinn kam. Da es keine Regeln mehr gab und eine auf der Vernunft gegründete Auseinandersetzung unbequem war, gewöhnten sich die Kinder an zu schlagen, zu schubsen, zu Prügeln, zu Spucken. Die Springseile, Bälle, Schläger und anderen Spielgeräte wurden zur Beute, die es zu erjagen galt, und sie fielen immer an die stärksten Kinder oder die grösste Gang. Das Teilen hatte seinen Preis, und was das Abwechseln betraf die nächste Runde ging immer an das wagemutigste Kind.


Auf dem Spielplatz brach das Chaos aus. Die Bälle schlugen nicht mehr auf dem Boden auf, es gab keine Mannschaftsspiele mehr, weil sich niemand mehr an die Regeln hielt und die meisten leugneten, dass es überhaupt Regeln gab. Allerdings kristallisierten sich nach und nach ein paar ungeschriebene Regeln heraus, diktiert von den wagemutigsten, gemeinsten und stärksten Kindern. Sie hatten auch keine Probleme, diese Regeln durchzusetzen: Macht schafft Recht. Die Schlausten überleben. Natürliche Selektion. Peter gefielen diese Regeln, weil er stark war. Pech für Peter war, dass Thomas stärker war. Er verprügelte Peter und etablierte seinen Ruf als gemeinstes und stärkstes Kind auf dem Spielplatz. Jetzt war es verboten, von der alten Autorität zu sprechen, die die Kinder früher gekannt hatten, und die Erinnerung an Frau Huber verblasste sehr schnell. Die Spielplatzregeln waren ausser Kraft gesetzt; nicht nur war das alte Holzschild fort, sie waren auch aus den Herzen und der Erinnerung der Kinder verschwunden.


Thomas Wille war jetzt Gesetz. Er kontrollierte alle Schläger, Bälle und Springseile, und er entschied darüber, wer damit spielen durfte und wann. Er hatte eine Gruppe harter Jungen und Mädchen um sich geschart, die allen anderen durch brutale Gewalt seinen Willen aufzuzwingen. Es gab keine anderen Regeln ausser seine.


Sie hatten übrigens keinen Spass mehr.

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